„Ist auch dein Kreis unscheinbar, eng und klein, erfülle ihn mit deinem ganzen Wesen, bestrebe dich, ein guter Mensch zu sein“, schreibt der griechische Dichter Homer im 8. Jahrhundert vor Christus. Die Textstelle ist das älteste Zeugnis der abendländischen Literaturgeschichte, die den Kreis als einen Raum darstellt, in dem sich individuelles Leben vollzieht. Noch heute ist der Begriff vom Lebenskreis sprichwörtlich. Die indische Philosophie kennt ein ganz eigenes Symbol dafür: das Mandala. Der Mensch entspringt aus dem Mittelpunkt des Kreises, bewegt sich bis zum äußeren Rand, der symbolisch für die Blüte des Lebens steht, um danach zurückzukehren zur Mitte.
In der Pflanzenwelt gibt es ein Gewächs, das zum Kreis in einer wesenhaften Beziehung steht: Passiflora incarnata, deren Blüte zehn konzentrische Kreise um einen genau im Zentrum liegenden Mittelpunkt bildet. Die Passionsblume, ein pflanzliches Mandala, Symbol für das aus der Mitte kommende und zur Mitte zurückkehrende Leben, besitzt eine tief beruhigende und zentrierende Wirkung auf die Seele. Schon jene Menschen, die der Pflanze den Namen Passionsblume gaben, haben die fast religiöse Dimension der Pflanze gespürt. Die „Fleisch gewordene Leidensblume“, abgeleitet von den lateinischen Worten incarnatus, passio und flos, wurde von Missionaren in Südamerika mit der Christusgestalt assoziiert, die in den drei Narben der Pflanze die Nägel der Kreuzigung sahen, im Fadenkranz der Blüte die Dornenkrone Christi und in den fünf Staubbeuteln seine Wundmale.
Der Kreis mit seinem Mittelpunkt gehört zu den Ursymbolen des Lebens. Er kann gedacht werden als ein Punkt, der sich aufbläst, die Dimensionen von Zeit und Raum in sich hineinfließen lässt, um sich anschließend wieder in sich selbst zurückzuziehen. Das Mandala findet sich in der Atomphysik im Tanz der Elektronen um einen Kern ebenso wie in der Zelle als Grundbaustein organischen Lebens, die alle Informationen für ihre vielfältigen Strukturen und Funktionen aus dem in ihr ruhenden Zellkern erhält. In jedem Sonnensystem und Spiralnebel begegnet uns dieses Urmuster des Universums ebenso wie in Blütenkelchen, Wasserstrudeln, Schneckenhäusern und Wirbelstürmen. Im menschlichen Leben entspricht der Mittelpunkt des Mandalas der Vorstellung vom Paradies, in dem vollkommene Einheit herrscht und keine Gegensätze vorhanden sind. Der Weg vom Zentrum in die Peripherie ist der Weg in die Polarität und in den Konflikt, ein schmerzlicher, aufwühlender, von Kämpfen und Ent-Zweiungen begleiteter, aber unvermeidlicher Prozess. Es geht nicht anders: Der Weg des Kindes aus der unbewusst erlebten Mitte zurück in die bewusst gesuchte Mitte, der Weg von der Geburt zum Tod, muss ein Weg durch die Konflikthaftigkeit der Existenz sein, denn Bewusstsein entsteht und schärft sich vor allem in der Entzweiung. Es beginnt zu entstehen mit der Trennung von Mutter und Kind, um sich weiter zu formen und zu differenzieren in jedem konstruktiv durchlebten Konflikt.
Wenn Menschen sich in Lebensphasen befinden, in denen die Konflikthaftigkeit des Daseins sie überfordert und in denen ihr Herz von Ängsten und Sorgen bedrückt wird, ist Passiflora incarnata eine wunderbare, tief zentrierende und den Menschen wieder in seine Mitte bringende Heilpflanze.
Passiflora ist eine ausdauernde Kletterpflanze, die bis zu zehn Metern lang werden kann. Ihre Heimat ist das südliche Nordamerika, Mittelamerika sowie die Tropen Indiens. Es gibt mehrere hundert Arten von Passionsblumengewächsen. Mittlerweile ist die frostempfindliche Pflanze, die sich im tropischen Regenwald besonders wohl fühlt, auch bei uns als Zierpflanze für Haus und Wintergarten sehr beliebt. Die Blüte hat einen Durchmesser von bis zu acht Zentimetern und ist von außergewöhnlicher Schönheit. Sie bildet unten einen Strahlenkranz aus je fünf grünen und fünf weißen Blütenblättern, die bei der Aufsicht von oben den äußersten Kreis bilden. Die Nebenkrone besteht aus zahlreichen feinen Fäden, die in vier Kreisen konzentrisch um die Blütenachse angeordnet sind. Sie sind weiß, hell- und dunkellila. Die Farbveränderungen verlaufen ebenfalls konzentrisch um den Mittelpunkt. Die inneren Fadenkreise bestehen aus kurzen, borstigen Stummeln. Zum Zentrum hin finden sich fünf Staubblätter. Im Mittelpunkt liegt der Fruchtknoten mit drei kräftigen Griffeln.
Passiflorablüten haben einen sehr zarten Duft. Ihre filigrane, konzentrische Schönheit macht sie zu einer der apartesten Blütenpflanzen überhaupt. Doch wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten: diese außerordentlich ästhetischen Gebilde blühen nur für einen Tag. So beeindruckend sie sind, so vergänglich sind sie auch. Sie entstehen und sie vergehen: nach nur einem Tag schließt sich die Blüte, welkt und bildet eine ovale, orange-gelbe bis bräunliche Frucht aus.
Passiflora blüht von Juli bis September.
Aus Antike und Mittelalter ist über die arzneiliche Verwendung der Passiflora nichts bekannt. Sie kam erst lange nach der Entdeckung Amerikas auf den europäischen Kontinent. Zum ersten Mal beschrieben wurde sie vom amerikanischen Arzt Dr. L. Phares, der ihre schmerzstillende Wirkung um 1840 im New Orleans Medical Journal beschrieb. Die erste umfangreichere Arbeit über Passiflora als Arzneipflanze findet sich 1904 von Dr. E. D. Stapleton im Detroit Medical Journal, wo er die schon von Phares beschriebene beruhigende Wirkung der Pflanze bestätigte. Er verwendete Passiflora bei der Schlaflosigkeit hysterischer und nervenschwacher Menschen und bei Alkoholikern. Der französische Arzt H. Leclerc empfahl die Pflanze 1927 bei nervöser Unruhe in den Wechseljahren und bei Schlaflosigkeit von Grippekranken. Er schätzte an Passiflora, dass sie einen Schlaf herbeiführt, der dem normalen sehr ähnelt und frei ist vom sog. Hang-over-Effekt im Sinne einer depressiven Verstimmung oder Benommenheit am nächsten Vormittag. Wer Passiflora als Schlafmittel einsetzt, wacht am nächsten Tag genauso erholt auf wie ein Mensch mit gesundem Schlaf.
Als weitere Indikationen nennt die Medizingeschichte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts Hirn- und Rückenmarksreizung, Krämpfe, Neuralgien, Schlaflosigkeit, Delirien, Angina pectoris und Menstruationsbeschwerden. Die brasilianische Medizin verwendet Passiflora auch bei Keuchhusten, Asthma, Bronchitis, starken Kopfschmerzen und Krämpfen der Kinder, Zahnkrämpfen sowie bei der „Schlaflosigkeit der Geistesarbeiter“.
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