Magersucht (Anorexia nervosa)

Das griechische Wort anorektein – „keinen Appetit haben“ – gab der Magersucht ihren Namen. Anorexia nervosa ist eine ernstzunehmende Essstörung, bei der das natürliche Verlangen nach Nahrung aus seelischen Gründen gestört ist. Betroffene leiden unter einer tief verwurzelten Angst vor Gewichtszunahme und einem verzerrten Körperbild, was zu einer bewussten Nahrungsverweigerung führt.
Die erste dokumentierte Beschreibung von Anorexie stammt aus dem 13. Jahrhundert: Prinzessin Margaret von Ungarn, die in einem Nonnenkloster aufwuchs, verweigerte jegliche Nahrungsaufnahme und arbeitete bis zur völligen Erschöpfung, als sie erfuhr, dass ihr Vater sie mit einem Thronfolger verheiraten wollte. Sie starb im Alter von nur 26 Jahren. Die überlieferten Berichte über ihr Leben sind eine eindrucksvolle historische Dokumentation eines klassischen Falls von Appetitlosigkeit aus psychischen Gründen.
Inappetenz aus emotionalen oder gesellschaftlichen Belastungen kann tiefgreifende Auswirkungen auf Körper und Geist haben. Magersucht ist daher nicht nur eine Frage der Ernährung, sondern auch ein Ausdruck seelischer Konflikte, die in einer umfassenden Therapie – sowohl medizinisch als auch psychologisch – behandelt werden sollten.
Magersucht: Eine Definition
Die „Sucht nach dem Dünnsein“ führt zu einer Eßstörung, die einen absichtlich herbeigeführten und aufrechterhaltenen Gewichtsverlust nach sich zieht. Die Krankheit trifft vor allem junge Frauen zwischen zwölf und fünfundzwanzig Jahren. Die Patientinnen zwingen sich meist zu einer strengen Diät oder verweigern die Nahrung total. Oft beginnt die Essstörung nach der ersten Periodenblutung, wobei der Erkrankungsgipfel etwa zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr liegt. Die Krankheit nimmt in den westlichen Industrienationen stetig zu. Immer häufiger sind auch Mädchen im Grundschulalter betroffen. Magersucht (Anorexia nervosa) gilt als typische Erkrankung der leistungsorientierten Mittelschicht und trifft oft Menschen mit starker Neigung zum Perfektionismus.
Anorexia nervosa ist eine schwere und ernstzunehmende Erkrankung, die in nicht wenigen Fällen auch tödlich endet. Die Patientinnen weigern sich, das Körpergewicht im Bereich des alterstypischen Durchschnitts zu halten. Aus einer panischen Angst vor Gewichtszunahme wird das Essen oft völlig verweigert. Folge: Die Betroffenen „verdünnisieren“ sich. Nicht wenige Patientinnen sterben am Hungertod.
Familienangehörige und Freunde machen immer wieder die Erfahrung, dass die Patientinnen keinerlei Krankheitseinsicht besitzen. Ihre Körperwahrnehmung ist dermaßen gestört, dass sie weder ihr Untergewicht registrieren, noch sich krank fühlen. Selbst wenn sie nur noch „Haut und Knochen“ sind, fühlen sie sich zu dick. Magersuchtpatientinnen können die mit dem Untergewicht verbundenen Gefahren oft nicht mehr wahrnehmen.
Magersucht: Diagnose
Sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch das psychiatrisch-diagnostische Klassifikationssystem der USA haben einen Katalog von Kriterien entwickelt, mit deren Hilfe eine Anorexia nervosa zuverlässig diagnostiziert werden kann. Das Symptom „Untergewicht“ ist alleine nicht ausreichend, denn dahinter könnten sich auch andere, mehr organische Ursachen, z. B. Diabetes mellitus, Malabsorptionssyndrom (Darmerkrankung mit gestörter Aufnahme von Nährstoffen) oder Schilddrüsenüberfunktion verbergen.
Eine Anorexia nervosa liegt vor, wenn folgende Kriterien zutreffen:
Untergewicht | Das Körpergewicht wird absichtlich unterhalb des unteren Normwertes gehalten (um 15 % darunter bzw. Body-Mass-Index < 17,5 (Körpergewicht in kg durch Körpergröße in cm mal zwei). |
Furcht vor Gewichtszunahme | Die Betroffenen leben in ständiger Angst vor dem Dickwerden. |
Verzerrte Körper-wahrnehmung | Die Patienten fühlen sich trotz bestehendem Untergewicht als zu dick. |
Bei Frauen: Amenorrhoe | Ausbleiben von mindestens drei aufeinanderfolgenden Menstruationszyklen |
Diät | Der Gewichtsverlust wird durch die Vermeidung hochkalorischer Speisen herbeigeführt. |
Subtyp | Mindestens einer der folgenden Punkte trifft zu: – selbst herbeigeführtes Erbrechen – selbst herbeigeführtes Abführen – übertriebene körperliche Aktivität zur Steigerung des Kalorienverbrauchs – Gebrauch von Appetitzüglern und/oder Diuretika |
Körperschema- Störung | Störungen im Hormonhaushalt Verzögerung der pubertären Entwicklung |
Als Nebensymptome treten oft ausgeprägte Verstopfung, ständiges Frieren, verlangsamter Herzschlag, niedriger Blutdruck, Neigung zu Wassereinlagerung und eine Verstärkung der feinen Körperbehaarung auf.
Etwa jede dritte Patientin war vor Beginn ihrer Magersucht leicht übergewichtig. Die Gedanken kreisen ständig um Nahrungsaufnahme. Magersüchtige Patientinnen essen am liebsten alleine. Dann kann niemand kontrollieren, dass sie in Wirklichkeit nichts oder nur sehr wenig essen.
Magersucht: Folgen des chronischen Untergewichts auf den Körper
Eine Magersuchtpatientin ist chronisch unterernährt. Das hat vielfältige und gravierende Auswirkungen auf zahlreiche Stoffwechselfunktionen und geht bis zu lebensbedrohlichen Komplikationen:
Kaliummangel kann lebensgefährliche Herzstörungen nach sich ziehen. Die erniedrigte Eiweißzufuhr mit der Nahrung führt zu Störungen in der Blutbildung und zu sog. „Hungerödemen“, da die im Blut enthaltene Flüssigkeit durch den Eiweißmangel nicht mehr ausreichend in den Blutgefäßen gehalten werden kann und sich deshalb im Gewebe ablagert.
Die Mangelernährung drosselt die körpereigene Östrogenproduktion. In der Folge bleibt die Menstruation aus. Da Östrogene auch die Einlagerung von Calcium in den Knochen fördern, führt der Östrogenmangel zu einer geringeren Knochendichte. Dadurch erhöht sich das Osteoporoserisiko erheblich. Der chronisch erniedrigte Östrogenspiegel kann zu Unfruchtbarkeit führen, die auch nach erfolgreicher Behandlung oft noch längere Zeit, in einzelnen Fällen für mehrere Jahre, fortbestehen kann.
Die mangelnde Zufuhr von Kohlehydraten zieht einen chronisch erniedrigten Blutzuckerspiegel nach sich. Deshalb muss der Körper Zucker (Glucose) aus anderen Substanzen bilden. Dafür ist eine erhöhte Sekretion von Cortisol und anderen Hormonen erforderlich. Der Nachteil: Dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel führen zu Haarausfall, Hautveränderungen und psychischen Erkrankungen. Sie fördern zusätzlich die Entstehung einer Osteoporose.
Sind die körpereigenen Reserven an Glucose aufgebraucht, kommt es vor allem bei körperlicher Belastung zu starken Unterzuckerungen, die je nach Schweregrad Bewusstlosigkeit, Hirnschäden oder sogar den Tod nach sich ziehen können, da das Gehirn durch den starken Glucosemangel Schaden erleidet.
Bei einer ausgeprägten Magersucht sind beinahe alle wichtigen Laborwerte erniedrigt: Das gilt für den Blutzucker und reicht über Eiweiße, Calcium, Phosphor, Blutfette, Eisen, weiße Blutkörperchen, Blutplättchen für die Blutgerinnung bis hin zu den Schilddrüsenhormonen.
Magersucht: Ursachen
Anorexia nervosa ist eine klassische psychosomatische Erkrankung. Die Ursachen sind deshalb auch im Bereich des Seelischen zu suchen und zu finden.
Magersuchtpatientinnen sind oft Frauen von überdurchschnittlich hoch entwickeltem und stark differenzierendem Intellekt. Gleichzeitig lässt sich eine ebenso überdurchschnittliche Verletzlichkeit auf emotionalem Gebiet beobachten. In der Familie finden sich häufig enge Beziehungen, bei denen es jedoch unscharfe Grenzen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern gibt. Neben starken Abhängigkeiten voneinander lassen sich oft ausgefeilte Konfliktvermeidungsstrategien und ein Mangel an Privatheit der einzelnen Familienangehörigen feststellen. Oft ist eine Neigung zum Überbehüten vorhanden. Mit Interessengegensätzen wird eher rigide umgegangen. Die einzelnen Personen schaffen es oft nicht, mit Konflikten elastisch umzugehen und reife Lösungen zu erarbeiten, die den Gefühlen aller gerecht werden. Die Eltern wurden oft als dominierend und autoritär empfunden. In der Herkunftsfamilie von magersüchtigen Frauen lassen sich starr ausgeprägte religiöse und ethische Vorstellungen beobachten. Die Kinder wurden oft unter ein sinnen- und triebfeindliches Leistungsideal gezwungen. Die in der Familie herrschenden Werte sind stark ideologisch und nicht an den Bedürfnissen und am emotionalen Wohlbefinden des Einzelnen orientiert. Häufig fehlte es an „Nestwärme“.
Magersüchtige werden oft als perfektionistische Musterkinder beschrieben. Sie sind angepasst, leistungsorientiert, gewissenhaft und gefügig, sog. „Herzeigekinder“. Die Zunahme familiärer Spannungen oder bestimmte Schwellensituationen führen irgendwann zum Ausbruch des Krankheitsbildes. Typische Beispiele sind Schulwechsel, Beginn eines Studiums, Verlusterlebnisse, Hänseleien wegen des Körperbaus, pubertätsbedingte Situationen (Entwicklung eines Busens, Schambehaarung), Einsetzen der Periodenblutung, Lösung vom Elternhaus oder sexuelle Annäherungen von Seiten des anderen Geschlechts.
Magersuchtpatientinnen erscheinen oft als reserviert und distanziert. Hinter der schüchternen, gehemmten und bisweilen ängstlich-nervösen Fassade verbirgt sich oft eine unsichere und sehr verletzliche Frau, die mit der Annahme ihrer weiblichen Rolle zutiefst überfordert ist. Sie hat Weiblichkeit und Sinnlichkeit nie oder viel zu selten in positiver Weise vorgelebt bekommen und ist deshalb davon überzeugt, diese Seiten in sich unterdrücken zu müssen. Die Abwehr gegenüber der eigenen geschlechtlichen Reife verhindert die Bildung eines autonomen Ichs als Frau.
Magersüchtige Patientinnen lassen nicht nur nicht die Frau in sich leben, sie sprechen sich oft auch als Mensch ihre Existenzberechtigung ab. Die Mortalitätsrate der Anorexia nervosa ist erschreckend hoch: Etwa jede 10. Patientin stirbt an ihrer Krankheit.
Praktische Tipps für Betroffene und ihre Familien
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Der psychosomatische Arzt Dr. Rüdiger Dahlke weist darauf hin, dass sich in der Magersucht ein Konflikt zwischen Geist und Materie, Reinheit und Trieb, Gier und Askese, Hunger und Verzicht, Egozentrik und Hingabe abspielt. Ein unerfülltes Verlangen kämpft mit der selbstauferlegten Verpflichtung zur Askese.
Der Magen ist psychosymbolisch betrachtet ein sehr weibliches Organ, da bei ihm das „Empfangen“ (von Nahrung) im Mittelpunkt steht. Wenn dieses Empfangen verweigert wird, man ihm sozusagen nichts geben möchte, können sich dahinter die Schwierigkeiten verbergen, dem eigenen Frausein und der Entwicklung einer fruchtbaren Weiblichkeit ausreichend Energie zu schenken. Das äußert sich in Widerstand gegen Sexualität, Weiblichkeit und dem Rundlicherwerden durch Schwangerschaft und Muttersein.
Die Heilung einer Magersucht geschieht durch das Annehmen des eigenen Frauseins, durch bewusstes Lernen von Nehmen, Empfangen, Loslassen und Hingabe. Wenn die Patientin erkannt hat, dass es ihr gut tut, den Elfenbeinturm körperloser Reinheit zu verlassen und kulinarisch und im umfassenden Sinne genießen zu lernen, ist schon viel gewonnen. Ihr Leben bekommt mehr Freude und Farbe, als sie sich jemals vorstellen konnte.
Psychotherapie, Ernährungstherapie und Medikamente unterstützen diesen Prozess. Daneben ist es wichtig, dass die Patientin sich neue weibliche Vorbilder sucht: Frauen, die mit Leidenschaft Frau sind, ihre Weiblichkeit und ihre Rundungen lieben, mit Lust ihre Kinder bekommen haben und in einer selbstbewussten Hingabe an Familie und Beruf ihre Verwirklichung erfahren.
© Margret Rupprecht